Dunkel. Das leise Surren der drehenden Ketten ist das einzige Geräusch im Moment. Es ist Nacht im Allgäu. Rabenschwarze Nacht. Ab und an blitzen kleine Lichter in der Ferne auf, um auch gleich wieder zu verschwinden. Wortlos quälen sich die beiden Radler die 15% Rampen hoch, nicht wissend, was sie hinter der nächsten Kuppe erwartet. Die Abfahrten, die normalerweise rasant erfolgen können, sind mit angezogener Handbremse zu meistern, da aufgrund der Dunkelheit, die nur durch zwei Fahrrad- und zwei Stirnlampen durchbrochen wird, eine Einschätzung der Strecke ausserordentlich schwierig ist.
Die Szenerie, die sich hier bietet, hat einen Hintergrund: Zwei ZRG Radler haben sich der Herausforderung gestellt, das im Rahmen von ARA-MUC (Audax Randonneurs Allemagne – Sektion München) angebotene Brevet „600km Allgäu Runde“ zu absolvieren. Start und Ziel sind München, Doch der Reihe nach.
Samstag, 8 Uhr morgens. München Roecklplatz.
Hier ist laut digitaler Brevetkarte der Startpunkt zu bestätigen. Thomas (Nitsche) und ich sind noch guter Dinge. Die Sonne scheint, es sind recht milde Temperaturen, und die Prognosen versprechen eine trockene Fahrt über die folgenden zwei Tage. Wetterprognosen, ein Thema, das uns noch verfolgen wird.
Die Tour geht über Pullach Richtung Starnberg, vorbei am See, der sich bei schönstem Sonnenschein von seiner besten Seite zeigt. Die Stimmung ist gut, mit einem fröhlichen Lied im Sattel geht es weiter über Penzberg zum Promberg hoch. Okay, ist zwar nur auf gute 600m hoch, aber der Ausblick von dort ist unfassbar schön. Die Zugspitze zum Greifen nah, linkerhand die Alpen in voller Schönheit, rechterhand grüne Almwiesen, das war Musik für die Augen. Nach einem kurzen Fotostop wird der Hintern, der bis dato noch voller Freude ob der Schönheit der Landschaft steckt, wieder auf den Sattel geschoben, und es geht weiter.
Nach 81km erreichen wir den ersten Checkpoint: die Esso Tankstelle in Murnau. Wir treffen zwei weitere Mitstreiter, die aus Stuttgart mit der Bahn angereist sind und die Tour ebenfalls bis zum frühen Abend des nächsten Tages abgeschlossen haben wollen. Schnell ein Beweisfoto geschossen, dann geht es weiter, die Alpen immer fest im Blick. Am Fusse der Alpen werden wir noch ein ganzes Stück entlangfahren, was sich auch in dem bereits welligen Terrain widerspiegelt.
Wir erreichen die Ammergauer Alpen, was sich auch darin zeigt, dass die über 90kg Lebendgewicht auf dem Rad anfangen, sich über die Gravitation zu ärgern. Aber bis jetzt ist der Körper noch voller frischer Energie, so dass der Genuss der traumhaften Landschaft noch im Vordergrund steht. Noch.
Nach Erreichen von Bad Kohlgrub (noch nie vorher gehört den Namen) geht es ein Stück nach Süden in Richtung Ammer. Wir kommen nach Altenau, wo uns das Wirtshaus „Altenauer Dorfwirt“ nach gut 100km zu einer ersten Verpflegungspause einlädt. Flaschen werden wieder aufgefüllt, die Reise geht weiter. Noch ist alles okay im Körper. Keiner von uns hat irgendwelche Beschwerden, so dass wir frohen Mutes zur Kenntnis nehmen, dass wir „schon“ ein Sechstel der Strecke abhaken konnten.
Über Peustelsau und Schwaig geht es auf einer Höhe von rund 900m (die wir gar nicht wirklich wahrnehmen) weiter Richtung Westen. 119km liegen hinter uns, als wir die berühmte Wieskirche passieren. Man merkt, dass dieser Ort bei Einheimischen und Touristen beliebt ist, da reger Besucherandrang in der Gegend herrscht.
Plötzlich macht mich Thomas auf etwas aufmerksam und zeigt mit dem Finger nach links: Majestätisch erhebt sich Schloß Neuschwanstein am Berg, ein wunderschöner Anblick. Lange verweilen können wir nicht, denn wir müssen noch am Forggensee vorbei zur Jet Tankstelle in Füssen, wo nach 144km der zweite Checkpoint wartet. Aber nicht nur das: Auch ein weiterer ZRG Radler, der Pierre J., hat von unserer Aktion gehört und begleitet uns ein Stück auf unserer Strecke. Eine willkommene Abwechslung, denn so verfliegt die Zeit (und damit die wellige Strecke) noch schneller.
Nach Füssen geht es erst mal ca 40km immer leicht bergauf. Langsam denkt auch der Hintern, dass mal gut sein kann. Aber nach einer kurzen Aussprache mit dem Gesäss wird die Fahrt ohne Murren fortgesetzt, so dass wir schließlich nach 170km Nesselwang erreichen. Wir sind seit einigen Kilometern mitten im Allgäu. Juhu. Der Ausblick auf die Höhenmeter, die ab jetzt erst richtig losgehen, lässt meine Motivation kurz innehalten. Aber der Blick in die traumhafte Umgebung bei diesem sonnigen Wetter lässt meine Bedenken schnell verfliegen. Erst mal. Noch ist ja alles gut.
Vorbei am wunderschönen Grüntensee geht es nach Wertach, wo der Pierre (deutlich eher eine Bergziege als ich) fröhlich meinte, „ja, hinter Wertach geht es erst mal kräftig hinauf… ist aber gut zu fahren“. Sag das mal dem 90kg Schinken da auf dem Carbonrahmen. Der sieht das ein wenig anders. Aber wie sagte schon Konfuzius? „Egal, wie hoch es geht, es geht auch wieder runter.“ Er mochte Recht behalten. Was er aber nicht wissen konnte: Die Abfahrt besteht aus einer kilometerlangen Rollsplit-Strecke, so dass nach einigen Kilometern mit stets leicht angezogener Bremse ein leichtes Ziehen in den bremsenden Fingern zu spüren war. Nicht schön. So konnte man auch die Landschaft nicht richtig geniessen, da wir auch Sorge hatten, der Rollsplit würde unsere Reifen zerstören.
Aber nach 185km erreichen wir den dritten Checkpoint, die Dreiangelhütte. Eigentlich wollen wir hier erneut eine Verpflegungspause einlegen, doch sah es so aus, als wenn sie gleich schliessen würden. So setzen wir unseren Weg fort und rollen auf jetzt deutlich besserem Strassenbelag Richtung Sonthofen weiter den „Berg“ hinunter. Ein kleiner Verbremser vor einer der vielen 90 Grad Kurven sollte mich später noch in Angst und Schrecken versetzen. So blieb es erst mal bei einem kleinen „Ausflug“ auf eine Almweide, wo ich aber ohne Probleme wieder auf die Strecke zurückfahren konnte. Hat Gott sei Dank keiner gesehen, da meine aktuell beiden Mitfahrer schon eine Kurve weiter waren.
In Sonthofen, nach nunmehr schon geradelten 195km angekommen (es war kurz vor 18 Uhr), suchten wir uns eine Lokalität, in der wir uns mal wieder so richtig stärken konnten. Sonthofen ist jetzt nicht klein, aber das beste Wirtshaus der Stadt (so die Empfehlung von Pierre) war leider komplett ausgebucht, der Italiener geschlossen, so dass eine Art „Bar und/oder Bistro“ herhalten musste. Okay, an Getränken kann man nichts verkehrt machen, aber das Essen war (milde ausgedrückt) gruselig. Aber immerhin hatten wir was im Magen.
Während wir noch sinnierend ob der schönen Tour dasaßen, spielte sich über unseren Köpfen ein Naturschauspiel ab: Rechts von uns strahlend blauer Himmel mit lustigen Schäfchenwolken, links von uns tiefschwarze Gewitterwolken, aus denen hin und wieder ein tiefes Grollen entwich. Ein kurzer Blick in unseren Streckenverlauf bringt ernüchternde Erkenntnis: Statt ins Blaue, müssen wir ins Schwarze fahren. Na toll. Rohrmoos, unser nächste Checkpoint, kann leider nicht anders angefahren werden. Wir packen schnell zusammen und hofften, dass wir mit viel Glück doch noch trocken durchkommen.
Als die ersten kleinen Tropfen fielen, hat Thomas schnell seine Regenklamotten angezogen. Ungläubig schaut er mich an und fragt „willst Du nichts anziehen?“. Würde ich ja, wenn ich was hätte. Aber die Prognosen meinten doch „ausser Sonne, Mond und Sterne ist nichts zu erwarten“. Pustekuchen. Nach wenigen hundert Metern tobte ein gewittertechnisches Spektakel sondergleichen über unseren Köpfen, so dass wir uns gerade noch auf einer Wiese in einem Mist-Lager-Schuppen unterstellen konnten. Dann ging die Welt unter. Starkregen, Hagel, der die Landschaft mit einer weissen Schicht bedeckte, dass Skifahrer schon nervöses Zucken bekommen konnten.
Nach einer Wartezeit von einer guten Stunde war es dann vorbei, so dass wir weiterfahren konnten. Ein paar letzte Tropfen zeugten noch vom Unwetter, aber es sollte die letzte Feuchtigkeit von oben sein, die wir zu erwarten hatten. Wir passieren Fischen im Allgäu, umfahren zusammengekehrte Hagelberge und rollen durch wadentiefe, überschwemmte Strassen.
Es war mittlerweile kurz vor 20 Uhr. Mein Plan, noch vor der Dunkelheit die höchsten Punkte der Tour passiert zu haben, kam ins Wanken. Die Stunde Extrawartezeit hat uns etwas zurückgeworfen im Zeitplan. Die Landschaft entschädigt zusehends für alle Strapazen. Zwischen den Bergkämmen kommt immer wieder die Sonne durch und taucht Felswände in goldenes Licht. Und was noch toll war: Es gab sehr lange Passagen, wo uns nicht ein motorisiertes Fahrzeug begegnete. Ein Paradies für Radfahrer.
Hinter Obermaiselstein kämpfen wir uns den langen Anstieg zum höchsten Punkt der Tour empor, auf 1.130 Metern. Kurz vor 21 Uhr erreichen wir den nächsten Checkpoint in Rohrmoos. Immerhin haben wir es doch noch geschafft, vor der Dunkelheit den höchsten Punkt zu erreichen. Allerdings war es erstaunlich mild dort oben, zumal es nach dem Wolkenbruch doch deutlich im Tal abgekühlt war.
Über traumhafte Plateaus und sanfte Abfahrten rollen wir weiter durch Hittisau am Stauspeichersee Bolgenach vorbei. Es ist Zeit, sich für die Nacht vorzubereiten. Armlinge an (es sind noch 12 Grad), Warnweste übergezogen und Licht einschalten. Die blaue Stunde ist vorbei, die Dunkelheit senkt sich herab. Nur die Lichtkegel unserer Stirnlampen und der Scheinwerfer erhellen den Bereich vor dem Rad. Befreit fahren kann man nicht wirklich, da wir nur noch rund 50m voraus sehen können, was da auf uns zukommt. An schnellere Abfahrten ist nicht zu denken.
Kurz vor 23 Uhr erreichen wir Oberstaufen. Aufgrund von unübersichtlichen Baustellen haben wir ein paar Mal das Rad schieben müssen, aber letztlich erreichen wir den nächsten Checkpoint am Hotel Lindler. Gute 255km haben wir geschafft. Ernüchterung macht sich breit, da wir feststellen, dass wir noch nicht mal die Hälfte hinter uns haben. Wortlos fahren wir weiter. Müdigkeit? Fehlanzeige im Moment. Der Geist ist hellwach, nimmt viele Geräusche der Nacht wahr, auch die Augen suchen in der Dunkelheit immer wieder Bezugspunkte. Hin und wieder tauchen abseits der Strasse gespenstisch funkelnde Augen auf… Katzen, die sich erstaunt zeigen, dass um diese Zeit noch jemand draussen unterwegs ist. Der Lichtkegel der Stirnlampen lässt ihre Augen glühen.
Wangen im Allgäu, es ist gerade Mitternacht durch. Wir müssen dringend unsere Flaschen auffüllen. Und Hunger haben wir eigentlich auch schon wieder. Unser Gedanke: Ran an eine Tanke und nachfüllen. Idee? Gut. Umsetzung? Pustekuchen: Alle Tankstellen haben geschlossen. Also musste das „Restaurant zur goldenen Möwe“ herhalten. Immerhin gibt es Kaffee (gut zum Aufwärmen) und Vivo Wasser. Dekadenter kann man seine Trinkflaschen kaum befüllen. Aber egal, wir sind froh, dass wir wieder versorgt sind, also geht es weiter. Aus dem hell erleuchteten Wangen hinaus wieder in völlige Dunkelheit.
Exakt bei der Hälfte der Strecke, nach 300km, sind wir auf Höhe der Ruine Ebersberg angekommen. Sicherlich ein toller Ort zum Anschauen, aber in stockdusterer Nacht sieht man leider auch mit Stirnlampe nicht so viel, als dass man seine Sightseeing Gelüste ausreichend hätte stillen können. Also weiter.
Hinter Bodnegg dann die nächste Überraschung. Nebel. Was, Nebel? Ja, Nebel! Kalte, dichte Schwaden. Hallo? Das war so nicht abgemacht. Es sind nur noch 8 Grad. Immerhin halten die Armlinge einigermaßen warm. Und solange man in Bewegung ist, geht’s. Anhalten darf man eben nicht, dann kriecht sofort die Kälte in alle Poren.
Der nächste Checkpoint Ravensburg naht. Wieder ein „goldenes M“, wo wir uns verpflegen können. Ein guter Biergarten oder ein zünftiges Wirtshaus hätten wir bevorzugt, aber man wird nicht wählerisch, wenn man bereits seit knapp 19 Stunden im Sattel sitzt. Mit leichter Verwunderung nehme ich zur Kenntnis, dass die Sonne nicht, wie ich vermutet hatte um halb 5, sondern erst um halb 6 aufgehen wird. Also wird wohl die Powerbank zum Einsatz kommen müssen, um die Lichtquellen die Nacht über bei Laune zu halten.
Eine erste Morgenröte zeichnet sich am Horizont ab. Die Sichtweite ist jetzt endlich weiter als 50m, so dass man auch wieder mehr von der Umgebung wahrnehmen kann. Wir nähern uns Pfullendorf, dem siebten von elf Checkpoints. Pfullendorf ist auch unser Wendepunkt. Statt mehr oder weniger konstant nach Westen geht es nun wieder nach Osten, wo es über eine nördliche Schleife zurück nach München gehen wird. Langsam bekommen wir auch schon wieder Hunger. Der Gedanke an leckeres Rührei, frisch gebrutzeltes Omelett, fruchtiges Müsli und saftiges Obst begleitet die folgenden Kilometer, wohl wissend, dass es nur Wünsche bleiben werden.
Wir lassen Ostrach und Bad Saulgau hinter uns. Der Hintern spielt weiterhin mit, Rücken und Schultern verrichten anstandslos ihren Dienst. Die Beine gehen ebenfalls noch gut. Nur eine leichte Müdigkeit macht sich breit, die auch durch die hin und wieder scheinende Sonne nicht wirklich beseitigt wird. So entscheiden wir uns nach ziemlich genau 400km, in einem Bushaltestellen-Wartehäuschen einen Powernap einzulegen. Immerhin sind die Holzbänke ausreichend dimensioniert, dass wir uns beide lang machen können, ohne einander in die Quere zu kommen. Den Wecker noch schnell auf 20min gestellt, damit wir nicht zu tief wegsacken, und schon macht sich ein gleichmässiges Atmen breit. Zusätzlich zum Wecker kräht noch irgendwo ein Hahn in den frühen Morgen. Ziemlich ausgekühlt ziehen wir Schuhe wieder an, setzen den Helm auf und versuchen, uns schnell wieder warmzufahren. Der Powernap hat einiges gebracht. Wir fühlen uns erstaunlich frisch wieder, die Müdigkeit ist erst einmal verflogen.
Bei km 412 erreichen wir den achten Checkpoint in Biberach an der Riß. Direkt nebenan schon wieder ein „goldenes M.“ Nicht unser Hauptwunsch, aber immerhin öffnet es gerade (pünktlich um 8 Uhr morgens), und wir können uns ein stärkendes Frühstück genehmigen. Mein vollständiger Impfstatus hat uns sogar den Bonus eingebracht, dass wir zur Abwechslung mal drinnen sitzen dürfen und die durchgekühlten Knochen der vergangenen Nacht ein wenig aufwärmen können. Nach einem netten Plausch mit einer älteren Dame, die sichtlich Interesse an unserer Tätigkeit zeigte, steigen wir wieder auf. Weiter nach Osten, der gerade aufgegangenen Sonne entgegen.
Nach 440km unterhielten Thomas und ich uns noch über die mangelnde Eisversorgung auf der Strecke. Wenn wir diese Strecke organisiert hätten, dann wäre mindestens alle 50km eine Eisdiele direkt am Weg eingeplant gewesen. Und weil uns der Eis-Gott erhört hatte, tauchte in Erolzheim direkt hinter einer Kurve aus heiterem Himmel eine Eisdiele auf, die sogar bereits geöffnet hatte. Endlich. Ein. Eis. Yeah. Und ein Cappuccino. Und ein Milchshake.
Türkheim, unseren neunten Checkpoint, erreichen wir nach rund 495km. Nur noch gute 100km trennen uns vom Ziel in München. Die Euphorie steigt. In einem Biergarten werden Tischdecken ausgebracht. Wir freuen uns schon, endlich mal ein vernünftiges Essen zu bekommen. Doch wieder Pech. Der Biergarten öffnet erst zwei Stunden später. Also musste dieses Mal Burger King herhalten, um unsere Flaschen und Mägen zu füllen. Immerhin war der Salat köstlich.
Nach knapp 500km und 30 Stunden im Sattel tut sich vor uns ein weiterer Anstieg auf. Normalerweise nicht wirklich herausfordernd, aber in unserem Zustand habe ich ein weiteres Wartehäuschen für eine kurze Rast nutzen wollen. In dieser Pause legen wir einen weiteren Powernap von 15min ein, da die Müdigkeit dann doch wieder durchkommt. Aber auch nach diesen 15min fühlen wir uns wieder deutlich frischer, um die letzte Etappe angehen zu können.
Bevor wir starten, fragt Thomas mich aus heiterem Himmel, ob ich den Reifen an meinem Hinterrad beklebt hätte. ??? Es entpuppte sich als ein nicht unerheblicher Schaden des Mantels, ein klassischer Bremsplatten, den ich mir vor etlichen km (ca. 300!!!) bei der Bergabfahrt eingefahren hatte. Über die Unwucht hatte ich mich schon lange gewundert, aber das eher auf den Untergrund geschoben. Nun war die Sorge gross, dass der Tubeless Mantel beim nächsten Splitstein platzen könnte. Wir haben zwar einen Ersatz mit, aber ich bin optimistisch, dass es noch eine Weile gutgehen könnte.
Weiter geht’s. Landsberg am Lech ist bereits ausgeschildert, auch erste Hinweise auf den Ammersee tauchen auf, vermitteln das Gefühl, dass es nicht mehr weit ist. In Moorenweis erreichen wir den letzten Checkpoint vor dem Ziel. Das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Allerdings warten noch ein paar lustige Rampen nach gut 550km auf uns. Thomas freut sich. Meine persönliche Begeisterung hält sich in Grenzen. Nach endlosen 560km erreichen wir den Ammersee, wo eine lange Schlange an der Eismacherei mich davon abhält, Thomas um einen Stop zu bitten. Ich wollte auch nur gern möglichst schnell nach München zurück. Hunger, Durst, Pipi, müde.
Hinter Seefeld gibt es nochmal einen Anstieg zu bewältigen, der nach 570km doch etwas mehr aua macht als auf einer „normalen Trainingsfahrt“. Wir bekommen eine Ahnung davon, was eine Rampensau wirklich ausmacht. Ich bin es sicherlich nicht. Aber immerhin ist es der letzte Anstieg vor dem Ziel. München rückt näher. Es sind nur noch 40km verbleibend, die über Starnberg, einen Teil der Olympiastrecke sowie durch Grünwald und Pullach führen. Mehr oder weniger automatisch folgen wir der Route, das Bild von Pizza, Spaghetti Bolognese, Schweinshaxn, Schnitzel und allerlei anderem leckeren Zeug vor dem geistigen Auge, als wir nach exakt 613km wieder am Start ankommen. Erstaunlich wenig müde, aber dennoch recht ausgelaugt und mächtig stolz und froh, diese Runde geschafft zu haben.
Und das Fazit? Nun ja, warum macht man das? Letztlich weil Radfahren genau unser Ding ist. Weil es ein schönes Gefühl ist, die Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers zu spüren. Festzustellen, dass die meiste Arbeit letztlich im Kopf stattfindet und nicht in den mechanischen Bauteilen des Körpers wie Beine, Schultern, Hüfte. Sicherlich, diese Bauteile haben das umzusetzen, was der Kopf möchte, aber immer wieder ist der Kopf in der Lage, den Rest des Körpers auf solche Strapazen einzustellen. Es gibt natürlich auch ein paar Körperstellen, die besonderer Reibung auf dem Sattel ausgesetzt sind. Arschcreme ist schon was Feines. Aber gibt es das eigentlich auch für die Hände? Wer etwas kennt, schreibt es bitte in die Kommentare.
Und noch etwas: Es hat sich mal wieder gezeigt, dass die Online Community auch offline funktioniert. Es war toll, einmal Personen, mit denen man bislang nur online in der ZWIFT Liga unterwegs war, auch mal offline draussen auf der Strasse zu begegnen und ein Stück gemeinsam zu fahren. Und zu merken, dass sie auch ausserhalb Discord genauso bekloppt sind wie man selbst. So fühlt man sich zuhause.
Würden wir es wieder machen? Auf keinen Fall! Jedenfalls nicht sofort. Etwas später vielleicht. So in ein oder zwei Wochen… Ergo: Auf jeden Fall machen wir es wieder! Dann sind wir noch etwas besser vorbereitet (ich jedenfalls mit Regenklamotten). Wir haben in den zwei Tagen mehr von Süddeutschland gesehen als in den letzten 10 Jahren per Auto. Und letztlich waren wir sehr glücklich darüber, dass wir wenigstens zu zweit waren (abschnittsweise auch zu dritt, Danke Pierre J.!), denn allein ist so eine lange Tour eine noch größere Herausforderung, besonders des nachts. Danke, Thomas, dass Du Dich doch noch hast breitschlagen lassen, dieses Event gemeinsam zu bestreiten!
Ach ja, und was ist mit dem Bremsplatten-Reifen? Der hat gehalten. Mit dem Bremsplatten rund 420km ohne weitere Panne zu fahren, ist schon ein riesen Glück. Der Conti 5000 TL scheint ein wirklich zuverlässiges Stück Gummi zu sein. Aber ausgetauscht wird er nach der Tour dennoch.
Ein paar Eckdaten der Tour (die eigentliche Ruhezeit insgesamt mit Essens-, Pipi- und Powernap-Pausen betrug ca. 5h. Garmin hat aber die Zeit auch an Ampeln, Kreuzungen etc angehalten, so dass rund 11h Pause zusammengekommen sind):
Abfahrt: Samstag, 08:06 Uhr
Rückkehr: Sonntag, 20:28 Uhr
Gesamtstrecke: 613 km
Gesamtanstieg: 6.709 HM
Brutto-Fahrzeit: 36h 22min
Netto-Fahrzeit: 25h 53min
Temperaturbereich: 8° C – 33° C
Gewichtete Leistung: 165 W (1.83 W/kg)
Herzfrequenzmittel: 125 bpm
Durchschnittsgeschwindigkeit: 23.7 km/h
Anzahl Kettenblattwechsel vorn: 154
Anzahl Schaltvorgänge hinten: 4.959
Strava Link: https://www.strava.com/activities/5539654512
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Dem Rennrad Virus seit 2014 verfallen, seit 2015 auf ZWIFT. Dabei aber auch immer wieder draußen zu finden, entweder im Trainingslager auf Mallorca oder aber irgendwo in Deutschland auf schönen Routen unterwegs. Andre ist Genuss-Fahrer, der kaum eine Eisdiele auslassen kann. Eis ist die Hauptenergie zum Fahren. Lieblingsrouten: Auf Mallorca die Mallorca 312 und in Oberitalien Mendel- und Jauffenpass. Seit 2015 auch immer wieder Teilnahmen an Rennrad-Jedermann Rennen. Sportlich schönstes Erlebnis: München - Gardasee nonstop. Sportlich anstrengendstes Erlebnis: 24h ZWIFTen. Schwerpunkt auf ZWIFT: Sprints (aktuelle FTP 339 Watt) mit max. 1.700 Watt.. Aufgrund des Eiskonsums leider nur max 3.9 W/kg.
Toll, danke für den Bericht und Respekt für die Tat.
Klasse Bericht, Andre!
Beim lesen der Zeilen bin ich die 613 km nahezu mitgefahren, so plastisch die Schilderungen und Eindrücke.
Wie ich im Kommentar in Strava schon schrieb, dachte ich mir schon, dass jetzt wieder was ganz Besonderes von Dir zu sehen sein wird, als ich die Fahrt ins Münchner Zentrum gesehen hatte.
Mitfühlen kann ich auch, denn ich habe auch schon so ähnliche Touren hinter mir; mehrfach RaR 24 Stunden, eine „Reise“ von Faßberg nach Kaufbeuren 2013 und von Kaufbeuren nach Faßberg in 2016, die aber jeweils nur tagsüber, von Montag bis Samstag, dafür aber mit 16 Fahrern und drei Begleitfahrzeugen.
Aber, über 600 km in zwei Tagen, Tag und Nacht, das ist eine andere Hausnummer!
Hier nochmal meine Bewunderung und meinen Respekt für die Leistung!
Chapeaux, Hut ab!
Btw.: Interessiert an solchen Touren bin ich grundsätzlich auch .
Hi Holger, die MSR steht auch noch auf meiner Bucketlist. Habe ich bislang zeitlich entweder nicht einrichten können oder es hat aufgrund der Pandemie nicht geklappt. 2022 will ich das aber unbedingt. Sehen wir uns da? Und Danke für die Blumen. Der Respekt gebührt auch Dir, dass Du diese Strecken auch durchhältst. Der Schnitt oder die Zeit sind total hupe wie mumpitz, durchkommen in der angegebenen Maximalzeit, das ist das Ziel. Wir sehen uns!
Hallo Andre, eine wirklich „verrückte“ aber überaus beeindruckende Leistung. Ich habe es bisher auf der MSR nur auf die Hälfte der Strecke gebracht. Zudem konnte ich die Strecke in einer größeren Gruppe bewältigen und war froh nach 9:36h reiner Fahrzeit im Ziel zu sein. Von daher ab vor Eurer Leistung